Peak

Auf Speed

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„Speed – auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, so nennt sich eine Dokumentation des TV-Senders Arte. Im Zentrum des ca. 90-minütigen Films steht eine persönliche Frage des Dokumentarfilmers, stellvertretend für viele andere Menschen: „Warum habe ich immer öfter das Gefühl zu wenig Zeit zu haben?“

Leben im Vollgas-Karrussel

Leicht lässt sich hinter dieser Frage ein bekannter Themenveteran unserer Medienlandschaft entdecken: die V-max Gesellschaft und deren verheerende Folgen für unsere individuelle Lebensführung. Soziologen, Psychologen und Philosophen messen, ergründen und beschreiben mit großem Engagement die High-Speed Gesellschaft. Auf einen einfachen Nenner gebracht und um differenzierende „Kommastellen“ gerundet, lässt sich sagen:  Es ist viel, und zu oft zu viel, was wir Tag für Tag zu bewältigen haben. Viele Menschen fühlen sich, als würden sie mit letzter Kraft an dem sich immer schneller drehenden Karrussel ihrer eigenen Geschichte hängen. Die „Lebenshaltungskosten“ für dieses beschleunigte Leben sind so hoch, dass sich Gesundheitskassen brennend dafür interessieren, auf welche Weise unsere Speed welche Krankheiten erzeugt oder begünstigt.

Angesichts dieses alarmierenden Befundes äußert ein profilierter deutscher Soziologe, Prof. Dr. Harmut Rosa (Jena), im Filminterview sein Unverständnis darüber, dass die zeitgeschichtlich sehr junge Wirtschaftsftsform des Kapitalismus Vielen als unhinterfragbar gilt. Denn genau diese aktuelle Aussprägung unseres Wirtschaftssystems sorgt dafür, dass das „Rad“ sich immer schneller dreht; und dass dem daran angeschlossenen Mensch langsam aber sicher die Gründe dafür ausgehen, warum er die Raserei noch länger akzeptieren sollte.

Fingerdicker Staub auf dem Labortisch der Gesellschaft

In dieser Situation wäre auf unserer gesellschaftlichen Agenda zu erwarten, dass wir hartnäckig Fragen stellen – nach dem Anderen, dem Neuen, der gesellschaftlichen Alternative; die einen Ausweg bietet aus der gefühlten Alltags-Zentrifuge. Ein intelligentes Gesellschaftssystem sollte unter dem Eindruck der gegenwärtigen Entwicklungen imstande sein, für diese drängende Aufgabe Räume bereit zu stellen, in Form von Geldern und Manpower, in denen Kreativität und Andersdenken sich entfalten können. Um auf diese Weise einer wichtigen  Frage eine Heimat zu geben: „Was können wir/sollen wird jetzt tun?“. Nicht zuletzt wären solche Räume nötig, um mit interessanten Alternativen verantwortungsvoll zu experimentieren. Eines dieser Experimente, so Rosa, könnte das „bedingungslose Grundeinkommen sein“. Es könnte, so sagt er, mildernd wirken gegen die Alleinherrschaft einer Wettbewerbslogik, die immer mehr Menschen zwingt, sich zu beinahe jedem Preis (auf dem Arbeitsmarkt) zu „verkaufen“; und uns alle vor sich hertreibt, mit der Zumutung sich an jede Geschwindigkeitssteigerung unter Schmerzen anzupassen.[verweis unten]  Doch es geschieht – wenig, zu wenig um einen Fortschritt zu erzielen. Dafür das politische Personal zu schimpfen bedeutet nur, eine Anklage gegen uns selbst zu führen. Wenn wir wollten, könnten wir der Politik jene Beine machen, die sie selbst nicht haben kann.

Was ist der Grund?

Doch wir tun es nicht. So dreht das Rad sich weiter. Für unsere Gesellschaft auf Speed heißt das: Verbindliche Tempolimits sind nicht in Sicht. Doch was läuft hier? Haben wir es verlernt, Kreativität außerhalb der Entwicklungsbürös für technische Geräte zu denken – und zu schätzen? Haben wir uns ein abgeschlossenes System geschaffen, in dem die ehrgeizigste Hoffnung nur eine verfeinerte Kopie des Gestern ist? Oder sind wir zu lange schon hypnotisiert vom gewohnten Verlauf der Dinge, als dass wir uns um die Produktion von interessanten Alternativen kümmern wollten?

Es gibt noch mehr, was sich dazu denken und vermuten läßt. Aber vielleicht erwächst die erhoffte Veränderung auf gesellschaftlicher Ebene eher aus dem kleinen, persönlichen Rahmen, als aus großen politischen Gedanken und Entscheidungen. Dann fällt die Verantwortung für den ersten Schritt, hin zum kreativen Lösungsraum, auf uns selbst zurück. Indem wir eine wichtige Frage beantworten: Wollen und können wir  in unserem täglichen Leben mehr Spielraum gewinnen – also kreative Räume schaffen für unsere ganz persönliche Entwicklung? Wollen wir, im Angesicht aller Ablenkungen, Zumutungen und Überforderungen des Alltags, mehr förderlichen Raum für Neues in unser Leben einplanen und beleben?

Mehr Spielraum für uns selbst?

Wenn ja, dann bieten sich von diesem Punkt an zahlreiche Möglichkeiten. Der kürzeste Weg zu einem möglichen privaten Raumgewinn führt über das Medium des Atems. Wann immer es eng wird im Alltag – in einer Arbeitssituation oder im privaten Leben, kann der Atem uns Raum verschaffen. Er verfügt über das Potenzial, bedrückende Enge zu weiten, vergessene Möglichkeiten zu eröffnen und routiniertes Grau mit Farbe zu beleben. Schon wenige Zyklen präsentes Atmen, als sporadische Unterbrechung in den Alltag gestreut, erinnern an die kreative Weite, die unser Leben verdient und nötig hat – und die wir alle schon einmal erfahren haben. Mag sein, dass dann, wenn wir uns ganz privat solche „räumlichen“ Erweiterungsmaßnahmen gönnen, auch die atemlose Gesellschaft endlich etwas mehr Luft bekommt.

[i] Niemand weiß, ob das sogenannten „bedingungslose Grundeinkommen“ einen gesellschaftlichen Lösungsansatz bietet. Es dient hier nur als Beispiel für viele Fragen, die keine echte Chance auf eine wissenschaftliche Überprüfung bekommen. Ressentiments und ungeprüfte Vorannahmen (hier zum Beispiel: über die Nichtfinanzierbarkeit des Projekts oder die „Faulheit“ des sich selbst überlassenen Menschen) vehindern die sachliche Auseinandersetzung.

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